Nikolaus von Kues — Philosoph und Universalgelehrter
Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus: 1401-1464), als Sohn des wohlhabenden
Moselschiffers und Kaufmanns Henn Cryfftz geboren, erhielt seine
höhere Ausbildung an den Universitäten von Heidelberg und Padua in der
Tradition des ausgehenden Mittelalters mit den Schwerpunkten Mystik, Scholastik,
Kanonisches Recht und Theologie. Seinen Doktorgrad erlangte er an der
Universität Padua in kanonischem Recht. Eine Lehrberufung als Jurist ins
brabantische Leuven schlug er jedoch aus und wählte stattdessen die
kirchliche Laufbahn. Damit war seine Karriere innerhalb des kirchlichen
Apparates weitgehend vorgezeichnet, auch wenn der später von ihm erreichte
Kardinalsrang angesichts seiner Herkunft für die damalige Zeit ungewöhnlich
war. Seine Titelkirche als Kardinal war S. Pietro in Vincoli unterhalb des
Monte Esquilino in Rom. Auf dem Grabmal dort ist das menschliche Erscheinungsbild
des Cusanus überliefert, ähnlich wie in der gotischen Kapelle des
Nikolaushospitals
in Kues, wo Cusanus als Stifter auf dem Mittelteil des
Flügelaltares abgebildet ist. Alles in allem ein erstaunlicher, aber wenig
spektakulärer Lebensweg, der in keiner Weise begründet, warum man heute noch
von ihm spricht. Es ist deshalb auch nicht seine kirchliche Laufbahn
—mit ausgeprägten Höhen und Tiefen— welche die Bedeutung des Cusanus ausmacht. Es
sind vielmehr seine Schriften, seine Gedanken zur Philosophie und Wissenschaft,
die bis heute Bestand haben und ihn zu einem Vordenker der Neuzeit gemacht haben.
In vielen Punkten Italien-orientiert, zudem geprägt durch die Freundschaft mit
dem Mathematiker Paolo Toscanelli, haftet seinem Werk insgesamt etwas
Fragmentarisches an. Ein Umstand, der vermutlich entscheidend dazu beigetragen
hat, dass seine Ideen in so viele verschiedene Richtungen befruchtend gewirkt
haben. Seine einzigartige Sammlung alter Handschriften scheint ihn zu einem der
Exponenten des Humanismus zu machen. Ihm ging es als Wissenschaftstheoretiker
aber weniger um die Wiederbelebung der Klassik im Sinne der Renaissance, als
vielmehr um die Erkenntnislehre der lateinischen und griechischen Welt. Diese
war während des Mittelalters für 1000 Jahre in Vergessenheit geraten und hatte
zu einem eigentlichen wissenschaftlichen Stillstand geführt. Tatsächlich sind
für Cusanus die auf Erfahrungen und systematischen Versuchen aufgebauten
Naturwissenschaften, verbunden mit der Gewissheit der Sätze der Mathematik,
zentraler Rückhalt allen Erkennens.
Wie lässt sich Wissen überprüfen, erweitern, mitteilen? Wie lassen sich
Fehlschlüsse und Missverständnisse vermeiden? Am besten wohl mit einer formalen
Sprache, bei der man sicher ist, dass das Gesagte auch genau das ist, was man
gemeint hat und der "Andere" auch nur genau das versteht, was man hat sagen
wollen. Eine wichtige Rolle spielen hier "Aussagen"; dies sind sprachliche
Gebilde, denen genau einer der Werte "wahr" oder "falsch" zukommt. Durch
Verknüpfung von Aussagen mittels der "logischen" Operatoren UND und ODER
entstehen dann wieder Aussagen. Auch kann man Aussagen durch Negation "umkehren".
So ist der Satz "Alle Häuser in Bad Sobernheim haben rote Dächer" eine Aussage,
von der wir wissen, dass sie falsch ist. Die Umkehrung dieser Aussage ist nun
nicht etwa "KEIN Haus in Bad Sobernheim hat ein rotes Dach", sondern "Es
gibt MINDESTENS EIN Haus in Bad Sobernheim, das kein rotes Dach hat". Es liegt
auf der Hand, dass eine solche formale Sprache in Verbindung mit präzisen
Definitionen und gewissen minimalen Axiomen ein mächtiges Instrumentarium
darstellt, um mit Wissen umzugehen. Cusanus hat nun, so sehr er die
Mächtigkeit des formalen Ansatzes auch schätzte, die uneingeschränkte
Anwendbarkeit eines Wahr-Falsch Formalismus in Frage gestellt. Einmal, weil es
Probleme gibt, die grundsätzlich nicht entscheidbar sind (in einem sich
gleichförmig bewegenden Lift ohne Fenster —d.h. der Lift wird weder beschleunigt
noch abgebremst— ist es für die Insassen mit keiner Messmethode möglich, zu
entscheiden, ob sich der Lift bewegt oder in Ruhe ist). Und, weil unvollständige
oder gestörte Informationen über den Untersuchungsgegenstand eine definitive
Entscheidung nicht zulassen. Es sind aber nicht nur die unvermeidbaren
"Messfehler", die zu Problemen führen. Viel gravierender kann es sein, wenn wir
uns einem Problem mit einem festen "Bild" nähern, was nichts anderes bedeutet,
als dass wir bisherige Erfahrungen auf neue und unbekannte Dinge zu
verallgemeinern suchen: "Erkenntnisgewinn durch den Vergleich zwischen
Bekanntem und Unbekanntem".
Cusanus hat sich damit am Ende des Mittelalters mit grundlegenden
wissenschaftstheoretischen Fragen auseinandergesetzt, die bis heute nichts an
ihrer Aktualität verloren haben. Notabene lange bevor Carl Friedrich Gauss
(1777-1855) die nicht-euklidische Geometrie und Albert Einstein (1879-1955)
die Relativitätstheorie entwickelt haben. Dies übrigens aufgrund von Überlegungen,
die auf den ersten Blick dem "gesunden Menschenverstand" und unserem Bild von
der Natur zuwider zu laufen scheinen. Denn, dass sich zwei parallele Geraden
nicht schneiden, ist ja wohl klar. Oder??